Wabi Sabi – von der Schönheit im Unvollkommenen

Gastautorin des Artikels: Susanne Gold

Vor zwei Jahren in Dalmatien hatte ich einen Unfall. Ich bin – nach einem Abendessen mit zwei gut gefüllten Gläsern Weißwein – in der Abenddämmerung die Steintreppe zu unserem Ferienhaus hinuntergestürzt.

Ein Unfall, der vergleichsweise glimpflich ausging, dennoch mein bisheriges Leben veränderte.

Mein linker Fuß war monatelang geschwollen und ich leide noch heute unter den Folgen meiner Schonhaltung, die ich während dieser Zeit einnahm.

Vor dem Unfall war mein linkes Bein mein Standbein. Heute ist es mein rechtes Bein. Bis zu jenem Tag im Sommer 2017 ging ich regelmäßig joggen. Ich absolvierte einen Kurs in meinem Fitnesscenter und hatte bereits ein Jahr motiviert trainiert. Nicht nur stolz war ich darauf, dass ich immer schneller und ausdauernder wurde, sondern ich brauchte die schweißtreibenden Runden im Park regelrecht, um meinen beruflichen Frust abzubauen.

Obgleich meine Leidenschaft seit jeher das Schreiben ist und ich in einer Redaktion arbeitete, sollte ich plötzlich – nach einer organisatorischen Umstrukturierung – keinerlei journalistische Arbeiten mehr erledigen, sondern die Rolle einer persönlichen Sekretärin einnehmen und maximal Protokolle von den Teammeetings schreiben dürfen.

 

Mein Frust hätte nicht größer sein können!

Oft musste ich viermal in der Woche laufen. Nur dann, wenn ich völlig aus der Puste war und der Schweiß in Bächen an mir herunterrann, war ich zu kaputt, um traurig oder wütend zu sein. Doch in der Nacht danach bereits knirschte ich wieder mit den Zähnen. Seit dieser Zeit habe ich eine Beißschiene.

Den Sommerferien in Kroatien habe ich monatelang entgegengefiebert.

Ein Freund von mir, ein dalmatischer Weinbauer, besitzt ein wundervolles kleines Ferienhaus mit einem Pool in einem einsamen Bergdorf, welches wir mieteten. Ganze vier Wochen weg von all dem Bürofrust! Ach, wie ich mich darauf freute!

Ich stürzte bereits in den ersten Urlaubstagen.

Danach ging nichts mehr! Ich war kurz ohnmächtig und mein Fuß schwoll binnen Sekunden auf die Größe eines Ballons an, während ich vor meinem eigenen Schmerzensschrei erschrak. Die restlichen Wochen der heiß ersehnten Ferien verbrachte ich mit Eiswürfeln auf dem hochgelagerten Fuß. Selten habe ich mich so hilflos und bedürftig gefühlt. Auf meinem Po rutschte ich regelmäßig zum Pool – der einzige Ort, an dem ich ein bisschen Mobilität hatte.

Für alles andere brauchte ich Hilfe.

Ich fühlte mich nicht nur hilflos – mir wurde auch langweilig. Zwar besuchten mich kroatische Freunde, meine Familie umsorgte mich aufs liebste – aber rumsitzen und grübeln? Das genau wollte ich nicht! Mein Plan war, durch die Weinberge zu joggen, zu baden und all das zu tun, was man im Urlaub so macht.

Also ging ich meiner alten Leidenschaft nach.

Ich schrieb einfach alles auf: Über die Gottesanbeterin, die aus dem Pool trank und Wespen jagte, Geschichten, die ich von anderen Menschen erfuhr, über die Landschaft, die mich umgab und meine Gedanken, die beim Lesen in diversen Forschungsmagazinen aufkamen.

Alle meine Gedanken wurden geschriebener Text.

Wenige Monate später wurde aus den Texten mein Blog – die Utopiensammlerin. Ohne meinen Unfall, den ich an keinem besseren Ort hätte haben können – immerhin gab es einen Pool – hätte ich keinen Blog gegründet.

Später begann ich zu meditieren, um mit meinen Schmerzen umzugehen. Durch die Meditationen hat sich etwas in mir verschoben. Wie ein Schleier, den ich lüftete oder ein anderes Universum in mir, welches ich betreten habe. Ein Universum der Enthaltsamkeit ohne ein Gefühl von Verzicht: Ich esse kein Fleisch mehr, keine Süßigkeiten, rauche keine Gelegenheitszigaretten mehr und trinke keinen Alkohol. Es fehlt mir einfach nicht.

Anfang dieses Jahres durfte ich eine von der Rentenversicherung bezahlte Rehabilitationsmaßnahme machen, in der ich erlernte, was ich tun kann, wenn mich erneut Schmerzen plagen. Ganze vier Wochen verweilte ich in der atemberaubend schönen Landschaft des Starnberger Sees. Von morgens bis abends drehte sich alles nur um mich. Ich habe mich wie eine Millionärin im Wellnesshotel gefühlt – so privilegiert – Und ich habe viel gelernt.

Unter den Folgen des Unfalls hatte ich gelitten. Dennoch habe ich in all der Unvollkommenheit vollständige Schönheit gefunden. Sogar eine größere Schönheit, als vor dem Unfall.

Dies meint der japanische Begriff „Wabi Sabi“ – die Schönheit in der Unvollkommenheit. Nämlich die Chance, in Unglück und Hässlichkeit vollkommene Schönheit zu finden, wenn man einen Schritt zurücktritt, um das Schlechte in einem größeren, schöneren Zusammenhang zu erkennen.

Heute war ich das erste Mal – nach immerhin zwei Jahren – wieder joggen! Barfuß im Sonnenschein am dänischen Nordseestrand – mit einer Mütze auf dem Kopf gegen den Wind. Ganze vierzig Minuten habe ich durchgehalten.

Was soll ich sagen? Die Nordsee hat noch nie zuvor so wundervoll geglitzert. Die Wellen schlugen nie zuvor mit einer solchen Anmut an den Strand.

Noch keine meiner Joggingrunden war eine solche Wohltat! Ich bin vollkommen glücklich.

 

Über die Autorin:

Susanne Gold ist Utopiensammlerin und betreibt den gleichnamigen Blog. In den geburtenstarken Jahren geboren, 1967 – in Hamburg. Sozialwissenschaftlerin. Mutter. Ehefrau. Tochter. Schwester. Tante. Referentin für Innovationskommunikation. Big-picture Typ. Kann weder Stricken noch exzellent Kochen. Lebt in München. Erfindet Dinge und schreibt Texte.

Menschen faszinieren sie: ihre Geschichten, ihre Gedanken und ihre Schicksale. In jedem von ihnen sieht sie etwas, das sie schön und einzigartig findet. Das ist wohl ihre beste Begabung. Am Ende ihres Lebens Lebens möchte sie sagen können, dass sie wirklich gelebt hat. Das treibt sie an.